Dienstag, 29. Mai 2012

Günter Grass: "Europas Schande"


Europas Schande



Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh.


Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt, wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.


Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, dem Dank zu schulden Dir Redensart war.


Zur Armut verurteiltes Land, dessen Reichtum gepflegt Museen schmückt: von Dir gehütete Beute.


Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister.


Kaum noch geduldetes Land, dessen Obristen von Dir einst als Bündnispartner geduldet wurden.


Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht den Gürtel enger und enger schnallt.


Dir trotzend trägt Antigone Schwarz und landesweit kleidet Trauer das Volk, dessen Gast Du gewesen.


Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren.


Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück.


Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter, deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt.


Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte.




Günter Grass, 2012

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